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Obstbergbahnhof

In einem Ingenieurbüro sitzt ein Lehrling über einem Plan und fertigt eine Reinzeichnung an.
Er zeichnet eine gestrichelte Linie vom Wylerfeld im Norden der Stadt bis zum Obstberg am östlichen Stadtrand von Bern. Der Lehrling schwitzt. Ein falscher Strich, und er kann von vorn beginnen. Aber es eilt. Denn auch in anderen Ingenieurbüros werden Eisenbahnpläne geschmiedet.
Seit kurzem fährt ein Zug von Olten nach Bern. Im Wylerfeld ist Endstation. Von dort aus werden die Passagiere per Postkutsche in die Stadt befördert. Die «Schweizerische Centralbahn Basel», kurz SCB, welche die Strecke betreibt, hat schon Pläne für eine Brücke über die Aare, damit der Zug direkt in die Stadt fahren kann.
Der Plan, an dem der Lehrling arbeitet, trägt aber einen anderen Stempel: OWB, «Schweizerische Ostwestbahn». Um die Bahnstrecken und Konzessionen tobt ein scharfer Konkurrenzkampf. Die OWB, gegründet von radikalen Liberalen, hat die Idee, Zürich auch noch via Luzern anzusteuern. Das sogenannte Zweiliniensystem.
Der Lehrling zieht die gestrichelte Linie dem Aarehang entlang bis zum Obstberg. Dort sind mit Bleistift zwei grosse Gebäude skizziert: Ein Personenbahnhof, und etwas weiter Richtung Muri, ein Güterbahnhof. Er zieht die Linie weiter durchs Jolimontgut, am Saali vorbei bis nach Gümligen. Dort sollen die Schienen der OWB die Schienen der Centralbahn kreuzen, des ungeliebten, politisch konservativen Konkurrenten, welcher die Konzession für die Strecke Bern-Thun  besitzt, aber den Bau noch nicht in Angriff genommen hat. Denn die Centralbahn ist erst mal damit beschäftigt, die Stadt Bern zu erobern.
Während der Lehrling noch über seiner Zeichnung sitzt, wird schon an der Eisenbahnbrücke über die Are gebaut. Und als am15. November 1858 der erste Zug über die «Rote Brücke» fährt, wirbt die Centralbahn eifrig für einen - städtebaulich und verkehrstechnisch fragwürdigen - Bahnhof am oberen Ende der Altstadt. Zwei Jahre später ist der Bahnhof Bern gebaut. Und wenig später wird der Christoffelturm abgerissen, um mehr Platz zu schaffen.
Niemand spricht mehr vom Obstberg-Bahnhof. Die Ostwestbahn (im Volksmund «Oh weh-Bahn» genannt) geht in Konkurs.
Die tadellose Reinzeichnung des Lehrlings: nur noch Makulatur.

Balts Nill
Musiker und Autor

Eintrag zum Standort im historisch-topografischen Lexikon

Obstberg